Natürlich gibt es beständige und gegenwärtige Traumatisierung durch die modernen Kriege, Vertreibungen und Genozide. Aber seelische Verletzungen können auch langfristig wirken – wie ein schleichendes Gift betreffen sie sogar Folgegenerationen. Eine Tatsache, die in Europa und speziell in Deutschland lange Zeit übersehen, ja sogar geleugnet wurde…
Das vererbte Trauma
Die psychologische Forschung kennt mittlerweile ein Phänomen, das sich Transgenerationale Trauma-Weitergabe nennt. Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich die Erkenntnis, dass Verletzungen von einer Generation zur nächsten „weitergegeben“ werden (können). Das ist zunächst schwer verständlich. Eine körperliche Wunde (und später die Narbe) trägt schließlich „nur“ die Verletzte davon. Nicht ihre Tochter oder ihr Sohn. Ist das bei seelischen Wunden anders? Es spricht vieles dafür, dass dies in der Tat so ist. Und es wirft natürlich auch philosophische Fragen auf. Ist die Seele doch etwas „Dauerhaftes“? Hat sie gar eine Struktur, die vererbt werden kann? Eine Annahme, die der moderne Mensch doch seit der Aufklärung vehement zu leugen versucht. Es wäre spannend die Konsequenzen einer solchen Erkenntnis zu durchdenken. Wenn Seelenwunden fortbestehen, warum sollen andere Seelenteile dies nicht auch tun? Im wissenschaftlichen Sinn ist eine Weitergabe durch Vorfahren (vor allem durch die Eltern) eine Kombination aus Lerneffekten und genetischer Veranlagung. Eltern und nahe Bezugspersonen sind Vorbilder, anhand derer wir unsere Weltsicht ausbilden. Im frühesten Kindesalter wird (im optimalen Fall) unser Sicherheitsglaube erlernt. Wir fühlen uns geborgen, angenommen und geliebt. Mit dieser Sicherheit können wir dann (wieder im optimalen Fall) nach Außen treten. Wir werden fähig, andere Menschen zu halten, anzunehmen und zu lieben. Es gibt noch viele andere Lernsituationen auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Zusätzlich sind wir aber auch durch unsere Gene geprägt. Unser Erbgut entscheidet, ob wir Frau oder Mann werden. Groß oder klein. Mit Hakennase oder mit großen Ohren. Wir wissen aber heute, dass der Vererbung da von der Natur auch schnell gewisse Grenzen gesetzt werden. Zum Beispiel sind bei der Entscheidung „Dick oder dünn“ zwar Erbfaktoren im Spiel. Aber eben nicht nur. Natürlich können wir unser Gewicht durch unser Verhalten (mit)beeinflussen. Und so haben wir es oftmals mit einer Mischung aus Umwelt- und Erbeinflüssen zu tun. Und vieles spricht dafür, dass das bei der „Trauma-Weitergabe“ oder „Vererbung“ traumatischer Erfahrungen ebenso ist.
Das „vererbte“ Trauma ist eine Sonderform des seelischen Traumas. Untersuchungen in den 1960er und 1970er Jahren wiesen erstmals an den Nachkommen der Holocaust-Überlebenden ein solches Phänomen der Trauma-Weitergabe nach. Die Betroffenen waren ja nicht selbst – also direkt – traumatisiert worden. Und dennoch fanden sich bei den Kindern von ehemaligen KZ-Häftlingen oftmals Bilder, Erinnerungsfragmente und Gefühlsregungen, die sich nicht aus der eigenen Erfahrung heraus erklären ließen. Viele von ihnen entwickelten zudem die Symptome einer klassischen Belastungsstörung. Somit kann es bei den Betroffenen (Kindern und Enkeln der Traumatisierten) sowohl zur Ausbildung von sogenannten Trauma-Folgen kommen, als auch zu einem „konkreten“ Erinnern von Trauma-Anteilen. Daraus ergeben sich drei grundsätzliche Probleme:
- Bilder und Erinnerungsfragmente sind diesen Menschen vollkommen unverständlich. Woher kommen sie? Was löst sie aus? Oftmals fühlen sich die Nachkommen Traumatisierter gefangen und unverstanden. Einige glauben auch, sie seien geistig gestört. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Symptome (Angsterleben, körperliche Störungen etc.) auch zu anderen psychiatrischen Erkrankungen passen. Somit wird recht häufig eine „falsche“ Diagnose gestellt.
- Die Betroffenen werden oft von Ahnungen gequält. Sie leben mit Gedanken und Stimmungen, die sie kaum zuordnen können. Sie wissen nicht, was mit ihnen los ist und sind ihren eigenen Gefühlen gegenüber oft orientierungslos. Sie irren quasi in einer Art Gefühlsnebel umher.
- Da ihnen der „direkte“ Trauma-Bezug (auch unterbewusst) fehlt, gibt es kaum Chancen auf eine Selbstheilung. Eine Trauma-Heilung setzt eine Integration von verletzungsbedingten Gefühlsanteilen und Erinnerungen voraus. Es muss also die ganze Persönlichkeit wieder gesunden, indem diese Anteile verständlich und fühlbar werden. Erleben, Denken und Fühlen werden auf diese Weise wieder eins.
Der Zweite Weltkrieg wirkt nach
Typischerweise finden sich in den Geschichten der Betroffenen die wiederkehrenden und fortdauernden Einflüsse, die das traumatisch Erlebte in den Persönlichkeiten fixieren. Es sind Geschichten der Vertreibung, der Bombenangriffe, der Zerstörung, des Erlebens direkter Kriegshandlungen sowie sexualisierter Gewalt. In Deutschland bezeichnen wir Menschen, die auch als Nachfolge-Generationen an kriegsbedingten, seelischen Folgen leiden, als Kriegsenkel*innen. Am stärksten betroffen sind dabei die von etwa 1950 bis 1975 Geborenen. Ihnen können die direkten Traumata gar nicht bewusst werden, denn sie haben sie ja nicht durchgemacht. Oft wird das seelische Leid dieser Menschen fehlerhaft eingeordnet. Sie gelten als nicht belastungsfähig bis hin zu depressiv. Vor etwa fünfzehn Jahren habe ich als Therapeut begonnen, mit solchen Patienten zu arbeiten. Dabei habe ich bemerkt, dass ich auch selbst ein Kriegsenkel bin. Die Erfahrungen dieser Arbeit (an mir und an Klient*innen) habe ich in dem allgemein-verständlichen Sachbuch Traumakinder zusammengefasst (im Moment nur als eBook erhältlich):